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Im Alltag, in Sitzungen, bei Telefonaten, Vorträgen, Tagungen oder wo auch immer, entstehen beiläufig Kritzeleien, ästhetisch auflockernde Miniaturen, gezeichnete Kommentare.
Einige durchlaufen eine Metamorphose, oft Jahre später: digitale Restaurierung mit Mitteln der Foto-Optimierung, Vergrösserung, Drehung, ein Remake in Farbe, handgemalt oder mit Photoshop, freigestellte, neu assemblierte Präsentation, veredelnde Rahmung.
So wird aus dem zufällig Hingeworfenen, dem konzentrationsfördernden, entspannenden Nebenbei mit gerade verfügbaren Materialien (etwa einem Schreibblock der Gastgeber) eine Darstellungsform, die genaues, nahes Hinsehen erfordert, um Bewegung, Verschlingung und Komplexität auf kleinstem Raum zu erfassen.
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Warum Kritzeleien bzw. «Doodling», «Scribbling » ?
Über diese Variante sich kreativ im Alltag zu betätigen, wurde schon viel geschrieben und auch geforscht. Sie ist sehr verbreitet, bis in die höchsten Kreise, und wird von Menschen mit oder gänzlich ohne zeichnerische Begabung betrieben – wobei es wohl schwierig ist, hier allgemeine Qualitätskriterien zu definieren. Gefälligkeit? Harmonie? Erkennbarkeit? Sicherlich Geschmacksache.
Es gibt aber Belege für die positive Wirkung bei jenen, die «es» betreiben, das «Doodling», das Kritzeln, das «Scribblen», das Ausschmücken von freien Ecken auf dem Papier. So nach dem Motto «How Doodling can make you smarter, happier and more productive». Darum ist es sogar eine Methode der Kunst-Therapie oder gar Gegenstand psychologischer Analysen; wie in der Graphologie gibt es natürlich unzählige Deutungsversuche.
Ich halte allerdings nichts von den Versuchen, etwa verwendete Symbole mit Seelenzuständen gleichsetzen (im Stil von «linksläufige Spiralen deuten auf ein Sozialitätsbedürfnis» usw.). Ich bin auch nicht der Auffassung, die Motivation sei vor allem in der Langeweile zu suchen. Im Gegenteil, oft trägt mich das Kritzeln durch sehr angespannte Situationen.
Viele Menschen nutzen eigene Kritzeleien (engl. Doodles, Scribbles), um quasi überschüssige Energie zu binden, sich intuitiv vom Abschweifen oder Tagträumen abzuhalten und sich so besser konzentrieren zu können. Dabei entsteht eine Art Ent-Stressung, eine konstante, effiziente Aufmerksamkeit, zudem wird manchmal kreatives Potential freigesetzt. Das freie, zufällige, quasi ungesteuerte Zeichnen holt – Träumen ähnlich – Unterbewusstes hervor.
Resultate solchen Treibens auszustellen, haben selbstverständlich schon einige gewagt (ich selbst hatte bereits meine erste Ausstellung von – grossformatigen – Bildern zu «Kosmischem & Sprayvisionen» 1980 um die Kritzeleien ergänzt). Sich damit in Galerien zu exponieren, ist aber riskant, denn diese Gattung wird oft belächelt. Weil sie nicht um der Kunst willen entstanden ist? Weil es als peinliche Überschätzung verstanden wird, so etwas zu rahmen? Ich verstehe diese Bedenken und auch die Schwierigkeiten, die manche Menschen beim Zugang zu diesen Miniaturen haben.
Entdeckungen, offerierte Assoziationen
Viele der Formen bleiben im Ungewissen, Rätselhaften, wecken dennoch Assoziationen: Sie rufen die hirneigenen Bio-Algorithmen auf den Plan, die Muster und Figuren erkennen und erklären möchten, was das Auge so anliefert: ist das nicht ein Gesicht, ein Tier, eine Pflanze, ein Fabelwesen? Der Mensch hat ab Werk ein Tool für diesen Reflex. Das lässt sich vertiefen: Fachbegriffe wie «Confirmation Bias» (Bestätigungsneigung) bzw. «Pareidolie» führen zu (medialen) Kommunikations- rsp. Interpretationsphänomenen, bei denen die Verwendung oder Erkennung von Mustern eine wichtige Rolle spielt – ein Feld der Kognitionspsychologie und auch der Narration.
Umgekehrt erschliessen sich Bedeutungsangebote auch mir selber mitunter erst später. Manchmal entwickeln sich Muster bewusst beim Zeichnen, ich greife immer wieder auf ein bewährtes Repertoire zurück, etwa Kreisformen, die als Augen gesehen werden können. Oder ich nutze aus der Graffiti- bzw. Comic-Branche bewährte Formen, etwa um Bewegung anzudeuten.
Ebenen und Formen erschliessen
Beim genauen Betrachten lassen sich die Werke bereisen – von einer Ebene zur nächsten, in die Tiefe, in Bedeutungsinseln, was wiederum mit deren Entstehung korrespondiert. Hier reihen sich Szenen aneinander, kleine ausgeschmückte Elemente, die sich zu einer Form ergänzen – hoffentlich. Darin liegt eine Herausforderung bei deren Konstruktion: passen die Linien und Gebilde zusammen, spricht auch das Ganze noch irgendwie an?
Mehrfachsichten durch Drehung
In einigen Formen steckt ein mehrfaches Potential: sie lassen sich drehen – und ermöglichen so ganz andere Zugänge. So gibt sich quasi auch ein Mehrwert. Das ist im übrigen auch ein Hauptgrund für den Verzicht auf eine Signatur, abgesehen von deren eher störenden Wirkung. Der Drehungseffekt ist nicht einfach nur Zufall, auch bei der Erstellung von Miniaturen drehe ich das Blatt. Es ist mir bei einigen sogar Anspruch, dass sie von allen Seiten «funktionieren».
Kritzeleien ab und zu auch in Farbe
Gewisse der meist schwarz auf weiss erstellten Zeichnungen bieten sich zur Kolorierung an. Erfolgt diese von Hand, meistens mit Ecoline, entstehen Unikate – oder wenn man so will neue Originale -, aber auch neue Deutungen. Denn Farben strukturieren neu, bestimmen etwa den Vorder- und Hintergrund, geben der Mustersuche neue Nahrung, definieren wiederum Räume, Zusammengehörendes, Abgetrenntes, .
So ist die Betrachtung und Interpretation ein komplexer Prozess, der individuell verschieden verläuft und der unterschiedliche Resultate bzw. Wirkungen auslöst. Manche Menschen können sich auf so Kleinteiliges gar nicht einlassen, es löst bei ihnen nichts oder gar Abwehr aus, andere nehmen nur die Ästhetik der ganzen Form wahr, nicht aber deren Inneres usw.
Zum Material fürs Doodling
Für die Arbeiten kamen und kommen alle möglichen Zeichenstifte zum Einsatz – was gerade so greifbar ist: Kugelschreiber, Filzstifte, Bleistifte, manchmal ein Füllfederhalter oder ein Tuscheschreiber. Erst in den letzten Jahren versuche ich, wenn immer es geht, halbwegs professionelles Material dabei zu haben, auf das ich spontan zurückgreifen kann, d.h. zum Beispiel verschieden starke Stifte mit Tusche oder Pigma-Tinte, die nicht verblassen (wie sie auch für Manga-Comics verwendet werden). Diesbezüglich hatte ich mir früher keine Gedanken gemacht.
Transformationen, Rekonstruktionen
Die grosse Mehrheit der Kritzeleien wandert in den Papierkorb, wird also nicht zum Erhaltenswerten erhoben. Andere wurden irgendwie aufgehoben, nicht systematisch erfasst. Und dann wieder hervorgekramt.
Eine Besonderheit ist die Restauration alter Originale, die zum Beispiel verblichen sind, weil sie mit nicht-lichtbeständigen Stiften oder auf durchschimmerndem Papier gezeichnet wurden.
Zur Reparatur oder Aufhübschung kommt digitale Bildbearbeitung zum Einsatz (ich arbeite meist mit Adobes Fireworks und Photoshop): Kontrast schärfen, Tonwert korrigieren oder – aufwendiger – mit digitalem Pinsel und Radierer arbeiten (etwa um Linien eines karierten, linierten Papiers zu tilgen). So entstehen eigentlich neue Originale, auch wenn sie «nur» in digitaler Form vorliegen. In einer Ausstellung bezeichne ich ein solches Exponat als digital optimierter Druck. Aber nicht immer reicht diese Methode. So habe ich einige Miniaturen auf dem Lichtpult manuell nachgezeichnet. Jetzt erst recht sind das «Rekonstruktions-Originale».
Miniaturen, Zeichnungen oder Bilder?
Es gibt Mischformen: Zum Beispiel Kleinwerke, die ich grösser nachzeichne. Oder bewusst grossflächigere Arbeiten im Stil der kleinen Formen, Reproduktionen auf A3 oder mehr – all dies führt zu den Grossformaten. Hier wird also der Grenzbereich zu anderen Gattungen bedient. Manchmal ist denn auch nicht eindeutig, welcher Kategorie eine solche Hybrid-Arbeit zugeordnet werden soll; den Miniaturen oder den >Bildern, den Malerei-Ergebnissen.
Frank Hänecke, 2020